Die Mumie der Wälder

Wenn von Mumien die Rede ist, denkt man eher an das alte Ägypten und nicht an den Bregenzerwald. Im Achtal finden wir keine Pyramiden, auch Pharaonen sucht man dort vergebens. Wir haben trotzdem eine Mumie gefunden.

Die Pandemie hat Fernreisen unmöglich gemacht und ich habe Besuch von Freunden aus Deutschland. Wir wollen wandern gehen. Sommerfrische steht auf dem Programm. Doch der Plan fällt mit dem Vorarlberger Sommerregen ins Wasser. Um meinen Freunden doch etwas zu bieten, fahren wir in den Bregenzerwald. Unser Ziel: die barocke Pfarrkirche St. Leonhard in Au.

Au war das Zentrum des Wälder Barockbaus. Hier wurden von 1650 bis 1843 Handwerker für den Kirchenbau ausgebildet. Bis ins Elsass wanderten diese. Aus der Ferne brachten die Bauleute wiederum Geld und neues Wissen nach Hause mit. Das Gold und der Marmor der Pfarrkirche St. Leonhard zeugen noch heute davon.

Gruselige Überraschung

Meine Freundin Laurie kniet vor dem Hochaltar, doch sie betet nicht. Stattdessen leuchtet sie mit ihrem Handy durch eine kleine Scheibe. “Ich habe eine Mumie gefunden!“, flüstert die Amerikanerin uns zu. Der Raum ist so still, dass es alle hören können. Wir kommen näher. “Wie kann das sein? Ich war schon oft in dieser Kirche, aber eine Mumie habe ich nie gesehen.“, entgegne ich. Doch sie hat recht.

Vor uns liegen die sterblichen Überreste eines Menschen. Keine einzelnen Knochen, sondern ein ganzer Leib in einem Kleid aus Goldfäden. Sogar ein Schwert hält der Leichnam in seinen Fingern. Wir sind fasziniert, aber auch verstört. “Wer ist das und warum liegt er hier und nicht in einem Grab?“, frage ich mich.

Ein “falscher Pius“ ?

Um meine Neugier zu befriedigen, suche ich das Gespräch mit Experten. Laut Michael Fliri, dem Archivar der Diözese Feldkirch, handelt es sich bei unserer Mumie um die Reliquie des heiligen Pius. “Er stammt aus den römischen Katakomben der hl. Cyriaka, die später von der Laurentiuskirche überbaut wurden.“, so Fliri. Unsere Mumie ist also ein frühchristlicher Heiliger. Wenn die Geschichte stimmt, ist er seit fast 2000 Jahren tot. Doch damit allein möchte ich mich nicht zufriedengeben.

Kann es sein, dass wir es mit einem “falschen Pius“ zu tun haben? Um eine zweite Meinung einzuholen, treffe ich den Kunsthistoriker Rudolf Sagmeister. Der Lochauer beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit Kirchenkunst. “Im 18. Jahrhundert waren diese ‘heiligen Leiber’ sehr begehrt. Pfarren gewannen durch den Erwerb einer Reliquie an Ansehen. Dahinter steckte auch ein großes Geschäft. In Rom wurden zahlreiche Leichen ausgegraben und als Heilige verkauft.“, hebt der Kunsthistoriker hervor. Es könnte also gut sein, dass anstelle des heiligen Pius jemand ganz anderes im Hochaltar der Auer Pfarrkirche liegt.

Drei Jungfrauen und ein Skelett

Ob die Mumie ein echter Heiliger ist, wird ein Rätsel bleiben. Vielleicht handelt es sich um den heiligen Pius, vielleicht auch nicht. Da ich aber immer noch nicht weiß, wie die Reliquie in den Bregenzerwald gekommen ist, fahre ich zurück nach Au. Dort treffe ich Walter Lingg. Er ist Seniorchef im Hotel Krone, das sich nur wenige Meter neben der Kirche befindet. Mit der Geschichte von Au ist der Hotelier bestens vertraut.

Gemeinsam schreiten wir durch die Pforte in das kalte Gotteshaus, schnurstracks Richtung Hochaltar. Als ich Lingg auf die Reliquie anspreche, weiß er sofort Bescheid: “Sie kam zu uns über den letzten Barockbaumeister aus Au, den Ferdinand Beer, der erwirkt hat, dass diese Reliquie, und zwar nicht nur ein Knochensplitter, sondern man könnte sagen, der ganze Mann aus den Katakomben Roms zu uns gekommen ist.“ Mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht fährt er fort: “Drei Jungfrauen namens Juen haben wunderbare Gewänder aus Goldfäden und Perlen gestickt, um dieses Skelett schön erscheinen zu lassen, obwohl es immer noch der Schrecken vieler junger Ministranten und Ministrantinnen ist, wenn sie hier zum ersten Mal hinter dieses Fensterglas schauen.“

(VOL.AT)

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