Die Welt da oben: Artikel von Georg Sutterlüty in “Die Presse”

bergsepp_066.jpgWie oft höre ich von meinen Besuchern, wie wunderschön ich es hier habe. Sie alle sind längst im Tal, wenn düstere Wolken die Bergspitzen einkreisen und sich ein Wettertief ankündigt. Mein Sommer auf der Alm: eine Selbsterfahrung.

Die Welt da oben
Von Georg Sutterlüty, Egg (Die Presse) 

Irgendwann kommt der Knackpunkt. Diesen Sommer erlebte ich ihn in der Mitte der Almsaison. Ich stand auf einem Felsvorsprung und überblickte mein Gebiet. Dabei streichelte ein frischer, zarter Wind meine Wangen, in der Ferne vernahm ich ewigen Klang der Kuhglocken, und über meinem Kopf glitten Falken, die die günstige Thermik zum Steigen nutzten. Prachtvoll breitete sich vor mir die Natur aus, spielte mir alle ihre Kunststücke vor. Und dennoch: Sie vermochte mich nicht mehr so recht zu fesseln. Sie war einfach da, wie alles andere auch. Sie hat ohne ihr Zutun neben dem Alltag Platz genommen.

Dabei hatte die Saison so eindrucksvoll angefangen. Dieses Mal hatte ich keine Mühe, meine auf das städtische Wien abgestimmten Sinne umzutauschen gegen die ländlich-gebirgigen des Bregenzer Waldes. Bereits der harzende Duft des Holzes der Almhütte war mir so vertraut, als hätte ich sie erst kürzlich verlassen. Ich blickte ins Tal hinunter und sah, wie die menschliche Zivilisation so klein und bedürftig erschien, als wäre sie von der Landschaft lediglich geduldet. Mich jedoch umringte das Große, das Übermächtige: imposante, bis zu den Bergspitzen hochziehende Felsen, auf denen wuchtige Tannen wuchsen, eine blühende Pflanzenwelt, die den Bergkessel in ein schillerndes Farbenmeer verwandelte, und versteckte Gebirgsbäche, die das Wasser je nach Wetterlage entweder mit einer Seelenruhe oder mit tosender Hektik ins Tal trugen. Mit aller Eile tauchte ich in die Tiefe dieser Idylle ein. Ich wollte ein Teil der Natur werden, noch mehr, ich wollte gänzlich in ihr aufgehen.

Diesen Sommer legte ich alles ab, was mich die Zivilisation gelehrt hatte, um in dieser Welt zu bestehen. Alle menschlichen Errungenschaften - mochten sie noch so groß sein - empfand ich hier oben auf dem Berg als Hindernis auf dem Weg zur Entdeckung des ursprünglichen, reinen Seins. Ich entfernte aus den Uhren die Batterien, um dem Tag und der Nacht die Zeit zurückzugeben. Wenn jemand mich um die Uhrzeit bat, konnte ich ihm lediglich den Stand des Schattens verraten, und gab es keinen Schatten, orientierte ich mich an meinem Hungergefühl. Ich mied tunlichst, das Radio nach dem Wetter sowie den aktuellsten Nachrichten zu fragen. Das Handy, mit dem ich nur Notrufe zu tätigen gedachte, verstaute ich in einem Eck. Wer nun glaubt, ich sei ein Aussteiger, der irrt. In Wirklichkeit bin ich ein Einsteiger, der nach neuen unentdeckten Sphären Ausschau hält.

Mit nur meiner eigenen Energie ausgestattet, bestritt ich den Tag. Ich konnte stundenlang auf einem Stein sitzen und dabei meine Rinder beim Grasen beobachten, wie sie mit ihren schnaubenden Nasen die Berghänge abtasteten und alles, was sie für verdaulich und geschmackvoll hielten, in ihre Mägen verschwinden ließen. Ich wünschte, wenn auch nur für einen Tag, mit einem so differenzierten Sinnesorgan ausgestattet zu sein, um all die feinen und wohlriechenden Kräuter der Berge in ihrer ganzen Entfaltung wahrnehmen zu können. Ich beobachtete den Gang der Gämsen, die mit Raffinesse die brüchigen Schrofen erklommen und die tief hängenden, praktisch unberührten Berghänge abgrasten, doch immer wieder innehaltend, ob nicht ein Eindringling ihre Ruhe störe. Zu denen zählte manchmal ich, wenn ich selbst die steilen Hänge hinaufkletterte. Dann roch ich den Atem der Felsen und spürte dessen Wärme, hangelte mich an den Sträuchern und robusten Pflanzen den Berg empor, wohl wissend, jetzt nicht ausrutschen und das Gleichgewicht verlieren zu dürfen. Die Tiefe grüßte unverzeihlich von unten.

Außerdem frönte ich den unzähligen Stimmungen, die das Wetter zu bieten hatte. Wenn brausende Nebelschwaden in Windeseile an mir vorbeizogen und sich über die Felswände beugten, als flüsterten sie ihnen ein Geheimnis zu. Wenn sich über meinem Kopf schwer beladene, graue Wolken hoben, die so tief dahinschwebten, dass ich glaubte, sie berühren, ja gerade direkten Kontakt mit dem Ursprung des Wassers aufnehmen zu können. Und wenn sich ein Wolkenmeer auflöste und erste Lücken freigab, durch die Sonnenstrahlen zur Erde stürzten. Schließlich erreichte ich mein Ziel. Eines Abends, als ich einen Rundgang unternahm, um nach meinen Rindern zu schauen, kletterte ich auf einen kleinen Felsen, von dem aus ich einen wunderbaren Fernblick hatte. Die Sonne neigte sich bereits über den Horizont und starrte nach getaner Arbeit zufrieden in den Bodensee, der ihr lächelndes Gesicht spiegelte. Als sie sich gänzlich in den See fallen ließ, gleißte das Wasser derart intensiv, als würde der gesamte See lichterloh brennen.

Irgendwann kommt der Knackpunkt, und das Leben holt einen allmählich wieder ein. Schließlich bin ich Hirte und habe 35 Stück Rinder zu hüten. Kaum einer meiner Bauern, die mir ihre Tiere anvertrauten, interessiert sich für meine Träumereien. Sie wollen im Herbst gesunde und am besten rundbäuchige Kälber in die Ställe treiben. Die meisten von ihnen sind Kleinbauern, die tagtäglich mit der Erde in Berührung kommen, dabei ständig feststellen, wie launisch sie sein kann. Sie lehren mich: Das Leben gehört auch gelebt und nicht nur gedacht und in Ideen zusammengefasst.

Das ist die Mischung, mit der ich es jeden Sommer zu tun habe. Auf der einen Seite ist die Zeit in den Bergen eine Reinwaschung vom zivilisatorischen Staub, den ich während des Jahres in der Stadt angehäuft habe. Das fühlt sich wie ein kühles Bad an einem heißen Sommertag an. Auf der anderen Seite kommen auf mich Herausforderungen zu, die sich nicht überlisten lassen, sondern denen man sich letztlich stellen muss. Die haben mit Idylle nicht mehr viel zu tun. Wie oft höre ich von meinen Besuchern, wie wunderschön ich es hier oben habe: diese Ruhe, diese Farbenpracht, diese Fernsicht! Sie alle sind längst schon im Tal, wenn dicke, düstere Wolken die Bergspitzen einkreisen und sich ein Wettertief ankündigt, das über Tage zu bleiben gedenkt. Plötzlich gleicht meine Alm einer einsamen Insel, auf der höchstens noch Verirrte stranden. Dichter, erbarmungslos ausharrender Nebel sowie fröstelnder Regen übertünchen die Landschaft mit einem bitteren, kalten Grau. Die Temperaturen sinken, manchmal so tief, dass ich mich mit einer Haube schlafen lege. Untertags sitze ich in der Stube und koche mir Tee oder Suppe, um gleichzeitig den Wohnraum zu wärmen.

In diesen bedächtigen Stunden dauert es nicht lange, bis das eigene Ich einen überfällt, den gesamten Raum ausfüllt, gar von den Wänden hallt, als bestünde der gesamte Kosmos nur aus diesem Ich. Wie einsam man sich auf einmal fühlt in der Welt dieses Ichs, die eigentlich nur aus einer Hütte besteht, irgendwo verloren in den Höhen der Berge. Mein früherer Nachbar auf der Schafalm verlor sich dann in den Romanzen der Dreigroschenromane, bis er selbst nicht mehr an die Liebe glaubte, seinen Hirtenstock packte und schnurstracks ins Dorf marschierte. Dort mischte er sich unter die Menschen und schüttelte die Einsamkeit ab. Wahrscheinlich hat jeder Hirte seine eigene Methode, mit ihr fertig zu werden. Früher hatte ich mich in meine Bücher vertieft, diesen Sommer habe ich die Einsamkeit einfach auf mich wirken, sie an meinem Leben Anteil nehmen lassen, bis ich ihr selbst zu ungeheuer wurde und sie ohne Verabschiedung von dannen zog.

Was mir bei längerem Tiefdruckwetter aber mehr zu schaffen macht, ist die ständige Ungewissheit, wo sich die Rinder gerade herumtreiben. Bei freier Sicht behalte ich meist den Überblick, weiß ungefähr, wo jedes einzelne Stück grast. Verwandelt sich der Bergkessel in eine graue Suppe, sodass ich keine 20 Meter mehr sehe, wendet sich das Blatt. Vor allem meine Rinder sind dann wie ausgewechselt, frohlocken über die nassfeuchten Bedingungen. Endlich ist für sie die Zeit vorbei, in der die Sonne unerbittlich ihre länglichen Rücken versengt und lästige Insekten sie fortwährend beim Fressen wie beim Ruhen plagen. Setzt Regen ein, verschwinden die Störenfriede, und nichts steht ihnen mehr im Wege, das Almgebiet zu erobern.

Rinder können sehr unterschiedlich in ihrem Verhalten sein. Manche wissen um die Grenzen, die ihnen sowohl die Natur als auch die Menschen setzen. Andere lassen sich vom Gras leiten, das mit zunehmender Höhe immer frischer und saftiger wird. Gelingt es ihnen, die üblichen Hürden zu überwinden, begeben sie sich auf gefährliches Terrain, wo jeder Fehler, jede Unachtsamkeit tödliche Folgen haben kann. Erst vergangenen Sommer schritt ich an einem Morgen nach einer verregneten Nacht geradewegs auf ein Kalb zu, das regungslos auf einer Geröllhalde lag. Die Beine waren steif und leicht schräg nach oben gerichtet. Ich näherte mich ihm und tippte meinen Hirtenstock gegen den aufgedunsenen Rumpf. Der Stock federte zurück, wie wenn ich gegen einen Gymnastikball gestoßen hätte. Aus dem Ohr war Blut getreten und bereits geronnen, der Blick erstarrt, die Zunge erschlafft, die heraushing und die Erde berührte. Wie wir später rekonstruierten, war das Kalb nach einem abenteuerlichen Ausflug an einer Felskante ausgerutscht, über 50 Meter in die Tiefe gestürzt und wahrscheinlich sofort tot gewesen.

Jeder Hirt kennt die Eigenheiten seiner Rinder, wenn er sich die Zeit nimmt, sie zu beobachten. Er kann auch beurteilen, was er in gefährlichen Situationen jedem einzelnen zutrauen kann. Und trotzdem wird er stets überrascht, weil das Leben nicht geradlinig verläuft, auch das der Rinder nicht. Es ist kein Garant der Sicherheit, alle gefährlichen Passagen durch einen Zaun wegzusperren. Heuer hatte ich zum Beispiel eine Kalbin, die mühelos wie ein Pferd über Abgrenzungen sprang. Die wahre Herausforderung liegt darin, mit den Tieren in einer eigenen Art zu kommunizieren. Dann verraten sie einem vielleicht, wie es ihnen geht oder was sie gerade vorhaben. Der Hirte kriegt so ein Gespür, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.

Um Mitte August beginnt es in den Bergen zu herbsteln. Die Pflanzen bereiten sich auf die winterliche Ruhepause vor, das Blühen geht in ein Verwelken über. Das Gras hört auf zu wachsen und wird allmählich borstig. Die Wildtiere wechseln ihre Reviere und lassen sich seltener blicken. Meine Rinder werden träger. Die saftigen Bergwiesen haben sie bereits verputzt, jetzt holen sie das Gras, das sie anfangs noch gemieden haben. Gelegentlich staksen sie gelangweilt um die Hütte und beobachten mich durchs Fenster beim Schreiben. Ihre Ruhepausen werden länger und ihre Bäuche etwas magerer, als wollten sie sich mit einer ansehnlichen Figur im Tal blicken lassen. Die Sonne geht längst nicht mehr über dem Bodensee unter und geizt ein wenig mit ihrer Strahlkraft. Die Tage werden kürzer, um halb sieben wird es hell und am Abend schon um acht dunkel.

Meine Sehnsucht wächst, wieder in die menschliche Welt einzudringen, so profane Dinge zu tun, wie an einer Bar ein Bier zu trinken oder das Kinoprogramm zu studieren. Kürzlich habe ich den Kalender aus der Schublade gezogen und die verbleibenden Tage gezählt. Es dauert nicht mehr lange, dann tausche ich meine gebirgigen Sinne gegen die urbanen. Dann wird man mich wie jedes Jahr fragen, ob ich nächsten Sommer wieder auf die Alm ziehen werde. Ich werde dann gleichgültig nicken und sagen, dass ich das jetzt noch nicht wisse. Allerdings gibt es noch viel zu erkunden!

(”Die Presse”, Print-Ausgabe, 04.10.2008)

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Kommentare zu diesem Artikel

  • wunderbar geschrieben, kann mich aber nicht ganz des Eindruckes erwehren, dass ich hier einige Passagen aus “Walden” von Henry David Thoreau wiederfinde?

  • vielleicht klappt es jetzt

  • Zitat:
    Sie alle sind längst schon im Tal, wenn dicke, düstere Wolken die Bergspitzen einkreisen und sich ein Wettertief ankündigt, das über Tage zu bleiben gedenkt.

    Sie sehen es vom Tal.
    Schön und eindrücklich geschrieben.

  • Wirklich sehr gut (be)geschrieben, denke mir oft so einen Sommer lang, nur in der Natur u. mit den Tieren leben, der ganzen Hektik u. den sogenannten “Verpflichtungen” entfliehen.
    EINFACH LEBEN UND DAS MIT DER NATUR!!

  • Das ist die Alpe Bühlen, unterhalb der Winterstaude!!!

  • Genau so ist es.

  • so wie es aussieht ist es die guntenalpe in egg (oberhalb der alpe finne, zwischen niedere und tristenkopf)

  • Schön geschrieben, auf welcher Alpe war das?

  • sehr tiefgründiger artikel - eine empfehlung wert!