Hausärztinnen Luzern: Offener Brief an Bundesrat Alain Berset

Sehr geehrter Herr Bundesrat Berset!

Der Autor dieses Briefes und die Unterzeichnenden sind alle als Hausärztinnen und Hausärzte in der Zentralschweiz in der medizinischen Grundversorgung tätig. Wir machen uns wie viele andere grosse Sorgen, da sich eine Stimmung der Angst und der Unsicherheit in der Gesellschaft ausgebreitet hat, die unser aller Zusammenleben be-trifftdie für die Zukunft nichts Gutes erahnen lassen.

Wir möchten auf die medizinische Situation in und um Luzern aufmerksam machen. Ein Grossteil der aktuell in der Bevölkerung grassierenden Angst ist durch die aus un-serer Sicht sehr einseitige Berichterstattung in den Medien entstanden. Wir glauben nur noch das, was wir mit eigenen Augen sehen. Und deswegen schreiben wir nicht über Wuhan und nicht über Bergamo, auch nicht über Genfoder Basel, sondern nur über Luzern. Die Zentralschweiz wird nur durch den Gotthard vom Tessin getrennt, aber auch zu diesem Kanton können wir uns nicht äussern.

Was uns aber hier in Luzern auffällt, ist die Tatsache, dass es in den letzten vier Wo-chen für uns wahrnehmbar nur wenig Infekte gegeben hat, einige Corona-positiv Getestete, alle aber praktisch mit leichten,grippeartigen Symptomen und einer fol-genlosen Ausheilung. Wir sehen aber ganz andere Phänomene: Leere Agenden bei uns Hausärzten und auch bei den Spezialisten, Patienten, die aus Angst vor dem Virus ihre Termine bei uns absagen, eine leere Notfallpraxis und vermehrt Patienten mit Angststörungen und Panikattacken. Wir hier uns Äussernden tragen zwar keinen Pro-fessorentitel und haben zumeist keinen universitären Hintergrund aber ohne uns in ir-gendeiner Weise wichtig nehmen zu wollen, wir könnten doch als die eigentlichen Corona-Spezialisten bezeichnet werden: Wir behandeln jedes Jahr unzählige Patien-ten mit viralen oder bakteriellen Infekten, meistens ambulant und die Virusinfekte, wenn immer möglich,ohne den Einsatz von Antibiotika. Die schweren Fälle schicken wir ins Spital und die anderen lassen wir möglichst zu Hause, damit sie sich schonen können und nicht die Krankheit weiterverbreiten. Es müssten also wir die ersten sein, die eine hochansteckende und gefährliche Infektionskrankheit detektieren. Warum müssen viele von uns Kurzarbeit anmelden, warum sind unsere Wartezimmerleerund warum stellen wir keine gefährlichen Infektionen fest?

Ob diese Entwicklung in der Zentralschweiz auf die vom Bundesrat entschiedenen Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie zurückzuführen sind, ist natürlich schwer zu bewerten. Was sich aber für uns zeigt ist die o.g. Diskrepanz zwischen dem vor allem auch von den Medien geschürtenBedrohungsszenario und unserer Realität. Die Massnahmen sind für uns alle sehr einschneidend und greifen auch in unsere verfassungsgemässen Grundrechteein. Zudem tragen sie unbeabsichtigt zur Entste-hung und Aufrechterhaltung von Ängsten bei, u.a. auch weil das Militär mobilisiert worden ist, um die für uns bis jetzt nicht wahrnehmbare Krise zu bewältigen. Auch die Aufforderung an die Risikogruppe der über 65-Jährigen (z.T. völlig gesunde und agile Menschen), zu Hause zu bleiben, erscheint uns in der aktuellen Situation nicht ange-messen zu sein. Bewegung an der frischen Luft ist nachweislich ein wichtiges Element in der Prävention von Herz-Kreislauferkrankungen, Krebs und z.B. auch Osteoporose. Die Massnahme, die vorgibt, Leben zu retten, begünstigt also Krankheiten bei einem Grossteil der Betroffenen. Auch fällt uns auf, dass viele Patienten aus Angst vor dem Virus nicht mehr zu uns in die Praxis kommen, bei denen neben zahlreichen Bagatellen auch Beschwerden von gefährlichen, aber abwendbarenErkrankungen vorliegen, die nicht von uns diagnostiziert und behandelt werden können.

Durch die bundesrätlichen Massnahmen sollen die unmittelbaren Risikopatienten geschützt werden, also unsere hochbetagten, multimorbiden und z.T. bettlägerigen Pa-tienten. Nach unserer Kenntnis sind die meisten der an Covid-19 verstorbenen Men-schen in der Schweiz älter als die durchschnittliche Lebenserwartung. Für sie sind wir als Hausärzte in gesundheitlichen Belangen die ersten Ansprechpartner. Wir wissen, dass bei dieser Patientengruppe die Lebensqualität oberste Priorität hat. Viele von ihnen haben eine Patientenverfügung hinterlegt, die diese absichern soll, dass keine unsinnigen lebensverlängerndenMassnahmen unternommen werden, insbesondere keine Spitaleinweisungen und schon gar keine intensivmedizinischen Behandlungen mit oder ohne künstliche Beatmung. Umgekehrt können die hochbetagten Men-schen in den Pflegeheimen von ihren Angehörigen nicht mehr besucht werden, die empfundene Einsamkeit und Isolation nimmt zu. Demente Patienten werden durch die restriktiven Massnahmen stark verunsichert, es braucht mehr beruhigende Medi-kamente, die Sturzgefahr nimmt zu. Mir sagte eine ältere Patientin mit klarem Ver-stand bei der Visite im Pflegheim letzte Woche, sie wolle lieber an Corona versterben und nicht an Einsamkeit, denn dann müsse sie auch noch alleine sterben.

Zusammengefasst lässt sich für uns aus Sicht der grundversorgenden Ärzte sagen: Wir schränken bei den Menschen, die wir schützen wollen, die ihr Leben aber nicht um jeden Preis verlängert haben wollen, die Lebensqualität in einem nicht akzeptablen Masse ein, wir reagieren mit Massnahmen, die einen grossen Teil der nicht unmittel-bar von Covid-19 gefährdeten Patienten krank machen (kurz-aber auch mittel-und langfristig) absurderweise angeblich für die Gesundheit. Und dies im Zusammenhang mit einem Virus, dessen Gefährlichkeit nach unserer Wahrnehmung in der Zentral-schweiz lediglich in den Medien und in unseren Köpfen existiert. Das zeigen v.a. die publizierten Mortalitätsraten, besondersin den Ländern, die über ein funktionierendes Primärarztsystem und ein hochstehendes Gesundheitssystem verfügen. So wie das glücklicherweisein der Schweiz der Fall ist.

Damit die Angst in unserem Land endlich wieder abnimmt und um demEindruck in der Bevölkerung entgegenzutreten, wir Ärzte wären nur noch für Covid-19 zuständig,ist es unseinwichtiges Anliegen, dass die medizinische Regelversorgung wieder her-gestellt wird.  Dies betrifft einerseits die Spitäler, welche nur noch dringliche Behand-lungen durchführen dürfenund andererseits die Arztpraxen, die aus unserer Sicht aus überbewerteterAngst vor Ansteckung mit dem Virus,gemieden werden.Unsere be-rechtigte Sorge bezieht sich auf die möglichen Folgen, wenn dadurch ernste Erkran-kungen nicht erkannt bzw. behandelt werden.  Wir bedanken uns, bei Ihnen und den übrigen Mitgliedern des Bundesrates Gehör gefunden zu haben und hoffen auf eine baldige Normalität unseres Alltages und des sozialen Zusammenlebens in diesem Land.

Freundliche Grüsse
Dr. med. Andreas Heisler
Dr. med. Manuel Grahmann
Dr. med. Edith Riegel
Dr. med. Ernst Feusi
Dr. med. Jochen von Eckardstein

Ebikon/Luzern, 8. April 2020

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