Auf breiten Schultern

Sulzberg – „Wenn ich weiter geblickt habe, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stehe“, machte einst Isaac Newton, Begründer der modernen Physik, klar.Dabei lässt er uns ein wenig rätseln, ob er sich oder die Riesen loben wollte, ob er einen einzigartigen Augenblick oder einen besonderen Standort betonen wollte. Zeit und Ort spielen ineinander wie der Einzelne und die vielen. Nicht gerade wie ein Zwerg, doch auf breiten Schultern stehend, hoch droben, kommt man sich in der neuen Wohnung der Sulzberger Birgit und Thomas Nöckl vor. Der Blick geht über die umliegenden Häuser, Kirchturm wie Dorfstraße scheinen greifbar nah. „Von jedem Platz habe ich Ausblicke: Vor der Küche liegt die Damülser Mittagsspitze, vor dem Wohnzimmer Säntis und Pfänder, vor dem Schlafzimmer das Allgäu“, so Bauherr Thomas Nöckl. Der Raum weitet sich in alle Richtungen, das Dach weit oben scheint abzuheben, ein weiter Schopf dehnt den Horizont. Selbst zur sonnigen Mittagszeit spürt man: hier ist man Wind und Wetter ausgesetzt wie auf einem Hochsitz.

Küche, Essraum und Wohnzimmer sind eins. Möbel, um die man herumgehen kann, gliedern dezent. So auch der zentrale weiße Kubus mit WC, Ofen, eingezogener Ofenbank und Stauraum, so niedrig wie möglich gehalten, damit der Raum frei bleibt. Was als Trennendes darüber hinausgeht, ist aus Glas. Reflektionen, schmale Mauerstreifen, die die Pfetten mittig stützen, der Kamin, einige Dachflächenfenster: ein belebtes Ganzes. Die in der rückwärtigen Hälfte liegenden Schlaf- und Arbeitszimmer bleiben als Teil des Raumes unter dem einen Dach erlebbar.

Licht und sachlich – viel weiße, verputzte Flächen, die Weißtanne der Akustikdecke, die Eiche des Bodens, die Möbel mit sauberen Handwerk- Details sprechen für sich. „Wichtig ist mir, dass die Dinge ein Eigenleben haben, das sie zeigen. Das will ich sehen und verstehen,“ sagt Architekt Gerhard Gruber. Sichtund verstehbar wie das Tragwerk, die von Giebel zu Giebel spannenden, mittig unterstützten Pfetten. Doch genau besehen, erahnt man die Anstrengung, die nötig war, das umzusetzen – etwa bei den großen Spannweiten über dem westlichen Giebelfenster. Und langsam wird einem klar, was hier Außergewöhnliches geschehen ist.

Der selbstverständlich wirkende Schopf wurde in gewagter Konstruktion vom Dach abgehängt. Also muss das Dach ein neues sein, genauso wie die Konstruktion, die es trägt. Man begreift: hier wurde ein ganzes Geschoß neu aufgeführt, dem das alte Dach weichen musste. Lange haben die Bauleute mit dem Architekten die Argumente abgewogen. Außenraumqualität spielte eine besondere Rolle. „Den Ausschlag gab der schöne Bauplatz – das heißt hier: oben und Aussicht. Heute ist es ein eigener Lebensraum mit Distanz zum Boden,“ so der Architekt.

Doch der schwebt nicht haltlos in der Luft. Er sitzt auf Schultern – auf dem Haus, das die Eltern Mitte der 1970er-Jahre errichtet haben, solide und tragfähig, doch eben: neuen Lebensformen so wenig gerecht werdend wie heutigen Energiestandards. Dennoch: Die Substanz sprach für das alte Haus. So blieb es dabei – mit neuer energetischer Verpackung und neuem Dach. Und die Eltern blieben unter demselben Dach, genauso wie das Geschäft. Auch das eine besondere Qualität dieses „Bauplatzes“: das menschliche Umfeld, gewachsen und gereift.

„Oben ist die Welt, wie‘s die Jungen wollen. Vor der Wohnungstür ist manches anders – ruppiger, mit Unterschieden, die sogar spannend sind. Der Architekt muss sich nicht immer zu 100 Prozent durchsetzen – man geht ins Stiegenhaus und ist in einer andern Welt. Qualität fast wie in einem städtischen Gründerzeithaus“, so der Bauherr und der Architekt ergänzt: „Das Haus hat Geschichte – durch Menschen und Mauern. Hätte ein Neubau das?“

Oft und sehr schnell fällt gerade bei Bauten dieser Zeit die Entscheidung für einen Abbruch. „Wenn die Substanz es hergibt, wenn präzise Eingriffe möglich sind, die das Haus nicht gänzlich infrage stellen, dann lohnt sich die Sanierung“, so Gruber. Klare Absichten, entschiedener Schnitt, klare Lösungen – etwa ein neues Dach auf der obersten Geschoßdecke. Dann, auf den Schultern der Riesen, sieht man weiter. Manches geht einfacher als geglaubt, manches bekommt man geschenkt – das Alte erwies sich als nützlich und strahlt mit frischem Gesicht.

Daten & Fakten

Objekt: Fassadensanierung und Dachgeschoßausbau
Bauleute: Grete und Emmerich Herburger, Birgit und Thomas Nöckl
Architekt: GruberLocherArchitektur
Statik: Erich Huster, Bregenz
Planung: 2009-2010
Ausführung: 2011
Grundstücksgröße: 722 m2
Wnfl. gesamt: 332 m2
Wnfl. Dachgeschoß: 113 m2

Bauweise: Ziegelbau mit 20-cm-Dämmung, hinterlüftete Schindelfassade; Betondecken, Warmdach mit 30-cm-Dämmung, Ziegeldeckung; Fußböden: Eichenparkett auf Heizestrich; Heizung: Fernwärme mit Fußbodenheizung; Innenwände neu: Ziegelmauerwerk, Trockenbau; Fenster: Holz-Alufenster; Deckenverkleidung: Akustikdecke, TanneAusführung: Baumeister, Zimmerer: Berkmann, Riefensberg; Akustikdecke: Nenning, Hittisau; Fenster: Hagspiel, Doren; Innenausbau: Haller, Langen; Böden: Fröwis, Bezau; Ofen: Voppichler, Egg; Heizung, Sanitär: Wolf, Doren; Elektro: Hertnagel, Sulzberg; Schindeln: Moosbrugger, Sulzberg

(Leben & Wohnen – Immobilienbeilage der VN)

Für den Inhalt verantwortlich:
vai Vorarlberger Architektur Institut
Mehr unter architektur vorORT auf v-a-i.at

Mit freundlicher Unterstützung durch Arch+Ing

Ab 10. April widmet sich das vai Vorarlberger Architekturinstitut in einer Ausstellung dem Thema Moschee-Architektur und der Sichtbarkeit des Islam in Vorarlberg.

INNENANSICHT SUEDOST.
Erkundungen islamischer Glaubensräume
Eröffnung, 9. 4. 2013, 19 Uhr
Ausstellungsdauer: 10. 4.–29. 6. 2013
vai Vorarlberger Architekturinstitut
Marktstraße 33, Dornbirn
Mehr Information zu Ausstellung und Begleitprogramm: v-a-i.at

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